Somatic Disembodiment – Oder: Wie finde ich heraus, was ich will (und dass das ist, dass ich nicht will)? Oder: Meine liebsten Workshops sind Workshops, die Workshops auf den Kopf stellen

„Wir beginnen mit einer kleinen Meditation, in der wir uns auf Zustände besinnen, die nicht auf Vergnügen und Befriedigung ausgerichtet sind. Wir möchten damit die Natur des Begehrens reflektieren und fragen, ob unser Begehren nicht sehr viel mehr mit Selbstverleugnung zu tun hat, als mit Selbsterfüllung.“

Das ist sie! Meine Notiz, die ich gesucht habe, weil ich in einem >> Podcast gefragt wurde, wie ich eigentlich an meine Workshopgestaltung rangehe. Der Podcast heißt "Sex in Berlin" und ist von Nike Wessel. Nike war 2024 auf dem sexpositiven Festival >> Xplore und hat dort meinen Workshop "Everyone Is Female and Everyone Hates It" besucht -- ein >> Zitat von Andrea Long Chu, welches rentfree in my head lebt. Der Workshop war Teil der Workshopreihe "Non-pleasure and absurdity", zu der mich Performancekünstlerin >> Anna Natt eingeladen hat. In einer Woche völliger Obsession, Schlaflosigkeit und Arbeitssucht wollten wir nichts Geringeres, als die Gesetze der sexpositiven Lust so weit zu dehnen, bis sie brechen. If you know you know. Und mein besagter Workshop sollte als Warm-Up dafür dienen.

Im Podcast erzählt Nike, dass sie zu spät zu meinem Workshop kam und eigentlich nur die letzte Übung mitgemacht hat, in der es darum ging, die Kleidung mit seinem Gegenüber zu tauschen. Sie erzählt, wie intim es war, die warme Kleidung eines anderen auf der Haut zu spüren und dabei gleichzeitig die eigene Kleidung auf einem fremden Körper zu sehen. Nike fragt dann, wie ich auf solche Übungen komme und wie ich meinen Workshopstil beschreiben würde. Im Podcast versuche ich zu erklären, welche wichtige Rolle die Lektüre von Theorie – Gesellschaftstheorien, Queer Theory, Kulturtheorien –  in meinen Kursen spielt und dass ich mit der Übung einige Gedankenexperimente aus dem Essay „Females“ von Andrea Long Chu körperlich nachvollziehbar machen wollte: zum Beispiel die Frage, wie man zur Projektionsfläche für die Wünsche anderer werden kann.

Diese Frage ist in sexpositiven Kreisen eher kontraintuitiv. Immerhin wird man in den meisten Workshops eher dazu ermuntert, herauszufinden, was man möchte. Es geht viel um Consent und somit um den eigenen Willen. Um das Kommunizieren eigener Wünsche. Um Empowerment: das Stärken der eigenen Handlungsmacht. In meinen Workshops spielt dieses „Habe den Mut dich deiner eigenen Sinnlichkeit zu bedienen“ ebenfalls eine große Rolle und ich würde auch immer sagen, dass ich in meiner Workshoparbeit zur Selbstbestimmung animiere. Die Lektüre von „Females“ fand ich dem gegenüber jedoch so herrlich erfrischend, weil es meine Erfahrung gespiegelt hat, dass es sich bei dem Bestreben, selbstbestimmt zu begehren, eher um ein Wunschdenken handelt, das sich nicht gänzlich einlösen lässt. Denn Begehren ist sehr viel komplexer.

Ein Beispiel: Bei unserem >> Retreat ‚Tantra with a pinch of salt‘ ist das Besondere, dass wir weniger feste Massagesequenzen vermitteln, sondern eher Tools und Techniken, mit denen eigene Massagen erfunden werden können. Dieser Ansatz spiegelt meine Werte wieder, weil ich es in intimen Begegnungen wichtig finde, sich aufeinander einzulassen und nicht nur ein Skript abzuspulen. Das Retreat lebt von dem Interesse an ethischen Berührungen: wie schafft man einen Raum für einander, in dem man erkunden kann, was gerade zwischen und in uns wirklich lebendig ist? Aber auch: Wenn alle Körper verschieden sind und Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnissen aufeinander treffen, welchen Sinn hat dann das Erlernen von festen Massagemustern, die man allen Körpern überstülpt? Lieber möchte ich die Bausteine an die Hand geben, mit denen Teilnehmer*innen ihre eigenen, für sie stimmigen Massagen zusammenbauen.

Ich finde das grandios. Und sehr viele andere finden das auch grandios. Und dann fängt man an und merkt: oh, das ist aber auch anstrengend. Und irgendwann erwischen sich die Teilnehmenden bei dem Wunsch, dass ich ihnen doch lieber sagen sollte, was sie tun sollen.

Es ist anstrengend, jemand sein zu müssen.

Man wird klaustrophobisch, kreist man zu viel um sein eigenes Selbst mit seinem eigenen Wollen. Und dann soll dieses Wollen auch noch irgendwie verständlich sein!

„Sag mir einfach was ich machen soll!“ und sogar „Sag mir einfach was ich wollen soll!“ sind Sätze, die ich fühl. Ich will es mir nicht eingestehen, aber wenn ich an sexy Interaktionen denke, dann sind diese Wünsche doch auch ganz schön präsent in mir. Der Workshop „Everyone is Female and Everyone Hates it“ möchte dem nachgehen, ohne es gleich zu verurteilen.


Was hat es also mit diesem provokativen Satz auf sich?

Für Queer Theoretikerin Andrea Long Chu bedeutet weiblich zu sein, „sich durch Selbstaufgabe zu definieren“: die eigenen Wünsche auszuschöpfen um sie durch die eines anderen zu ersetzen. Weiblich zu sein bedeutet, dass unser Begehren auf uns projiziert wird.

Und warum wollen das alle, wenn es heißt, dass „alle weiblich sind, auch wenn sie es hassen“?  Nun, es hat ja auch etwas erleichterndes, befreiendes und beschützendes. Denn ich muss dann nicht für mein eigenes Begehren einstehen. Ich kann mich verstecken hinter fremden Begehren – Begehren, das immer auch beschämend sein kann. Also bin ich vor Scham geschützt. Niemand kann mir vorwerfen, dass ich so etwas Niederes, Billiges, Dreckiges oder was auch immer wirklich wollen würde. Wer steht in unserer in saubere Kategorien eingeteilten Sexualkultur denn wirklich zu seinem messy Begehren?

Ziel des Workshops ist es nicht, herauszufinden ob das Zitat stimmt oder ob es gut und richtig ist. Ziel ist, mit dem Zitat zu arbeiten, um mit Entfremdung zu spielen. Um herauszufinden, was einem dabei hilft, eine entpersönlichte Intimität zu leben. Eine Intimität, in der wir uns daran erfreuen können, den Körper zu einem Ding werden zu lassen, das den Wünschen des anderen unterworfen ist (und natürlich geschieht das im Workshop auf Grundlage der gegenseitigen Einvernehmlichkeit, so dass wir uns und unser Gegenüber dadurch nicht auch gleich dehumanisieren und entwürdigen).


Wichtig: ‘Weiblichkeit’ meint hier nicht das biologische Geschlecht. Sondern ‚Weiblichkeit‘ meint hier ein universelles Gender. Es meint einen existenziellen Zustand, den alle Geschlechter erfahren können: ein Zustand, bei dem das Selbst geopfert wird, um Platz für das Begehren eines anderen zu schaffen. 



Der Workshop zielt nicht darauf ab, sich gut zu fühlen (was nicht heißt, dass er darauf abzielt, sich schlecht zu fühlen).

In der zu Beginn angeleiteten Meditation, bitte ich die Teilnehmenden tief ein und aus zu atmen, den Luftstrom in ihrer Nase zu spüren, wie sie ihr Körpergewicht an den Boden abgeben. Mit sanfter Stimme versuche ich meine Yogalehrerin zu imitieren:

“Nun denke an all die Wünsche, die du typischerweise in deinem Sexualleben verfolgst. Erkenne, wie viel Aufwand und Energie in die Befriedigung dieser Wünsche fließt.
 Wähle nun eine deiner erotischen Fantasien aus. Was wäre das Beste, was du auf der Xplore Playparty erleben könntest? Stelle es dir im Detail vor. 
Dann frage dich: Was wäre das Zweitbeste? Was wäre die weniger gute Fantasie? Was wäre weniger wünschenswert? Ersetze deine beste Phantasie durch deine Zweitbeste und beschließe, dich auf der Playparty immer für die zweitbeste Idee zu entscheiden.
Visualisiere dies. Erkenne die Gefühle und Gedanken, die mit dieser Fantasie verbunden sind. Wie unterschätzt das Zweitbeste ist. Schenke dem mehr Aufmerksamkeit, bleibe bei bei deinen mittelmäßigen Phantasien und dezentriere die Erstbesetzungen.
 Während Du weiteratmest, stelle dir vor, wie du auch diese Wünsche loslässt. Stelle dir vor, wie sie sich in Luft auflösen.



Stelle dir nun vor, du hättest zwei Körper zur gleichen Zeit: einen Körper, der voller Sehnsüchte ist, aber einen Ort außerhalb seiner selbst finden muss, um diese Wünsche zu platzieren. Der zweite Körper wird dieser Ort, dieses Gefäß für die Wünsche des ersten Körpers. Stelle dir vor, wie dieser zweite Körper in sich Platz macht für die Wünsche des anderen Körpers. Fühlen den Raum, der in dir entsteht, wenn indem du in die Platz machst. Nimm diese Leere an, dieses Gefühl, ohne eigene Wünsche zu sein.
 Beobachte alle dabei aufkommenden Gefühle.

Bringe nun dein Bewusstsein zurück zu deinem Atem. Nimm das Heben und Senken deines
 Brustkorbs bei jedem Ein- und Ausatmen wahr.

Wenn du dich bereit fühlst, öffne deine Augen und sitzen einen Moment lang still,
und denke über deine Erfahrung nach.“



Nach der Meditation erkläre ich die Philosophie hinter „Alle sind weiblich und alle hassen es“ und versuche, der entpersönlichten Erotik in drei Übung näher zu kommen:

I.) Den Anderen modellieren

Es arbeiten immer zwei Personen zusammen – eine Person (Person A) ist in der Rolle des Bildhauers*der Bildhauerin, die andere Person (Person B) ist das Material für deren Skulptur.

A bringt B in bestimmte Posen und Positionen, über die A entscheidet.

Tauscht euch vorab über persönliche Grenzen, No-Go’s und Safewords aus. Vereinbart, wie A B berühren soll (vielleicht sogar mit Stöcken statt mit den Händen) und welche Körperstellen nicht berührt werden dürfen. Die Interaktion kann jederzeit abgebrochen werden.

A hat 8 Minuten Zeit, um B nach A’s Vorstellungen zu modellieren. Danach tauschen beide die Rollen.

II.) Das Selbstnegations-Rollenspiel

Es arbeiten immer zwei Personen zusammen. 
In jedem Duett spielt zuerst eine Person das ‚Ich‘, während die andere Person den ‚Anderen‘ spielt. Nach jeder Interaktion werden die Rollen getauscht, so dass man mehrmals hintereinander abwechselnd mal ‚Ich‘ und mal der ‚Andere‘ ist.

Die Interaktion sieht wie folgt aus:

‚Ich‘ äußert eine persönliche Vorliebe, ein persönliches Verlangen oder einen persönlichen Wunsch. Daraufhin antwortet der ‚Andere‘ so, dass die Aussage von ‚Ich‘ ersetzt wird durch eine andere Vorliebe / einen anderen Wunsch / ein anderes Begehr – eines, das auf das ‚Ich‘ projiziert wird. Der ‚Andere‘ muss sich einfach vorstellen, was ‚Ich‘ will oder was laut Vorstellung des ‚Anderen‘ besser zu ‚Ich‘ passt, ohne dass es etwas mit ‚Ich‘ zu tun haben muss.

Zum Beispiel:


Ich: „Ich mag Bondage und bin auf Playparties eigentlich meist am Fesseln“.
 Andere: „Eigentlich würde ich auf der Playparty lieber sehen, wie du dir in der Ecke einen runterholst und dabei andere angaffst“.
Ich: „Ich kleide mich gern in eng anliegende Dessous “
Andere: „Baggy Klamotten würden dir ausgezeichnet stehen und entsprechen voll deinem Typ“
Ich: „Ich bin meist eher schüchtern“
Andere: „Ich sehe dir an, dass du jemand bist, der beim Flirten den ersten Move macht und die neuesten Anmachsprüche parat hat“

Jedes Mal, wenn der ‚Andere‘ eine Aussage von ‚Ich‘ durch eine andere ersetzt, zieht ‚Ich‘ ein Kleidungsstück aus, als Symbol dafür, dass ‚Ich‘ etwas von sich selbst loslässt.


Daraufhin wechseln ‚Ich‘ und der ‚Andere‘ die Rollen. Wenn ‚Ich‘ also etwas aussagt und der ‚Andere‘ ein alternatives Begehren auf ‚Ich‘ projiziert und ‚Ich‘ daraufhin ein Kleidungsstück auszieht, werden die Rollen getauscht: wer zuvor ‚Ich‘ war, wird der ‚Andere‘ und der ‚Andere‘ wird ‚Ich‘. Danach werden die Rollen wieder getauscht und wieder und wieder, bis man sich nicht mehr ausziehen will oder bis man nackt ist.

Dann verwenden beide keine Worte mehr, sondern interagieren, indem sie immer abwechselnd ein Kleidungsstück von sich nehmen und es langsam ihrem Gegenüber geben. Die Person, die das Kleidungsstück erhält, zieht es an und nimmt dann ein Kleidungsstück von sich selber, das nun die andere Person anzieht. Das geht so lange hin und her, bis beide Personen alle Kleidungsstücke des jeweils anderen anhaben oder bis das Unbehagen der Übung zu unerträglich wird.


Schließlich beenden beide die Übung und diskutieren darüber, wie es sich angefühlt hat, dass ihre Wünsche/Vorliegen/Eigenheiten negiert und ersetzt wurden, und setzen dies in Beziehung zu der von Andrea Long Chu beschriebenen Idee der Weiblichkeit.

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Beate Absalon

Beate Absalon erforscht als Kulturwissenschaftlerin “andere Zustände”, wie Gebären, Trauerarbeit, Hysterie, Schlaf, radical happiness & collective (kill-)joy oder sadomasochistische Praktiken. Nachdem sie zunächst untersuchte, wie Seile in aktive Passivität versetzen können – durch Bondage, aber auch im Marionettenspiel oder politischen Aktivismus –, promoviert sie derzeit über erfinderische Formen der Sexualbildung. Ihr theoretisches Interesse speist sich aus der Praxis, da sie sich und andere gerne in ekstatische Zustände versetzt – am liebsten undogmatisch: Flogging mit Lederpeitsche oder einem Bündel taufrischer Minze, Halten mit Seil oder Umarmung, Spielen mit aggressivem Kuscheln oder liebevoller Erniedrigung, Fließenlassen von Wörtern oder Spucke. Zu tun, was aus der Norm und dem Alltäglichen fällt, kann Angst machen und gleichzeitig ungeheuer lustvoll sein. Workshops und Sessions gestaltet Beata als Erfahrungsräume für Grenzwanderungen, auf denen Grenzen überschritten und gefunden werden, vage und wagemutige Phantasien gemeinsam erkundet, ein eigener Stil entstehen darf.

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On the "tradition" of Tantra Massage (OR Eva says it best)