Einsame Oberflächen – Sexual Enhancement am Touchscreen

Dieser Artikel erschien zuerst in der Printausgabe der Institutszeitschrift ‚IFKnow‘, Frühjahr 2020

„Es ist das übliche Problem der Grenzen. Wann hast du dich zum ersten Mal selbst befriedigt? Die erste erfolgreiche autoerotische Stimulation, die dem frustrierten Fingern ein Ende setzte? Der Versuch eines bedeutsamen Fingerspiels?“, fragt die Protagonistin des Films „Jung & Wild“[1] in ihrem gleichnamigen Blog, in welchem sie über ihre erotischen Bemühungen philosophiert. Ja, wie lernen wir eigentlich, uns und anderen Lust zu verschaffen? Folgen wir Intuitionen, finden wir etwas autodidaktisch durch Versuch und Irrtum heraus, oder suchen wir uns anleitende Tipps und Tricks?

Mit dem Einzug sogenannter Sex-Technologien stehen neue Möglichkeiten zur Steigerung unserer Erregungskompetenzen zur Verfügung. Was macht es aber mit Vergnügen und Verlangen, wenn sie als „Skills“ betrachtet werden, die man beherrschen und verbessern kann? Liegt das Potenzial in der Beschäftigung mit etwas so Transgressivem wie Lust/Wollust nicht darin, dass sie ganz andere Wege aufzeigt, sein Leben, seine Liebe zu leben und seine Revolution zu führen?

Diesen Fragen gehe ich hier exemplarisch anhand der euphorisch besprochenen Website OMGYes nach, die ihren Bildungsauftrag darin erkennt, „die sexuelle Lust der Frauen ans Tageslicht“ zu bringen. Dort führen in unverblümten, doch nie vulgären Videos sympathisch wirkende Frauen ihre Vorlieben intimer Berührung an sich vor. Die detaillierten und exakten Erläuterungen empowern in ihrer Offenheit und den Hinweisen zur Entstressung: „Der Weg ist das Ziel.“
Das Design gibt sich betont seriös und scheint jeglichem Pornografievergleich seinen wissenschaftlichen Ansatz entgegenzuhalten, wenn betont wird, „neue Wege zu mehr Lust auf der Basis aktueller Forschung“ zu erkunden. Diese beruht auf Onlinebefragungen der Indiana University School of Medicine und des Kinsey Institute mit mehreren Tausend US-amerikanischen Frauen, deren konkrete Vulvastimulationsweisen ermittelt, geclustert und in Berührungstechniken wie „orbiting“, „layering“ und „hinting“ eingeteilt wurden.[2] Diese können – das ist das besondere Gimmick! – interaktiv an fotorealistischen Vulven erprobt werden: durch Tippen und Streichen am Smartphone oder Klicken und Nachzeichnen mit der Maus am Bildschirm. Über akustische Hinweise erhalten die NutzerInnen Feedback – durch leichtes Seufzen und Loben oder pädagogisch-geduldige Ermunterungen, es anders zu versuchen.

Welches eigentümliche Verständnis von Sexualität vermittelt diese Touchscreen-Gebrauchsweise? Der Fokus auf Haptik scheint zunächst einem wortwörtlichen Be_greifen intim-naher, sinnlicher Dimensionen gerecht zu werden, wirft jedoch Fragen nach den Differenzen zwischen maschineller Sensorik und organischer Sensibilität auf. Körper sind zu Erstaunlichem in der Lage. Auf sie wirken und in ihnen wohnen ungeahnte Kräfte, vor allem wenn sie begehren und sich in Sphären wie Passion und Ekstase bewegen – schwer fassbaren Bereichen irgendwo zwischen Reiz und Risiko, auf die das Erforschen von „female pleasure“ doch abzielt. Das Wischen über die glatte Oberfläche eines Screens, das in seinem Bildausschnitt Erogenität auf ein sogenanntes primäres Geschlechtsorgan und Lust auf das Ausführen klarer Berührungsabfolgen reduziert, hält jedoch nichts von dem Versprechen bewegender Erfahrungsmöglichkeiten. Das technische Medium scheitert per se an der Darstellung von Leiblichkeit als etwas zu Erkundendem, was auch reliefartig, porig, haarig, warm, riechend, feucht – und dadurch potenziell widerständig und „polymorph-pervers“[3] ist. Eher enttarnt das Programm schon beinahe parodistisch die libidinöse Besetzung unserer Smart Devices, die wir durch Swipen befummeln, in Körpernähe (oft nah am Schritt) mittragen, denen wir unsere intimsten Geheimnisse anvertrauen, sie mit ins Bett nehmen und in deren Öffnungen wir beim Telefonieren flüstern … Das Verständlichmachen weiblicher Lust anhand von Diagrammen, Infografiken und Prozentangaben wirkt hingegen ungeheuer mathematisch. Es scheint, als würde, wer bereit ist, die 45 Euro Gebühr zu zahlen und sich auf das Trainieren einiger auf Evidenz basierender Fingerübungen einzulassen, bald einer Elite besserer, sehr gescheiter, sehr professioneller LiebhaberInnen angehören. Eine neue intellektuelle Klasse, die das Sexuelle „enhanced“ und befreit vom Unvorhersehbaren, Regellosen, Erschreckenden und Subversiven – von allem, was berührt.

OMGYes folgt einem dringlichen Anliegen der Enttabuisierung weiblicher Lust, doch droht ihre Auffassung von Sexpositivität in Sexpositivismus zu kippen. Dies könnte auch an der ahistorischen Ausrichtung des Projekts liegen, wenn mit der Verkündung eines Paradigmenwechsels durch die Demystifikation weiblicher Sexualität keineswegs das Rad neu erfunden wird. Dies war bereits Anliegen des Women’s Health Movement der 1960er- bis 1980er Jahre – jedoch umgreifender und radikaler, weil die Aufklärungsformate der sogenannten Consciousness-raising-Gruppen nicht nur Befriedigungstechniken, sondern ein ganzes Feld sexueller Gesundheit und Rechte umfassten und auf erfindungsreiche und mutige Ansätze kollektiven Austauschs setzten. Sie zeichneten sich neben Gesprächsrunden und Beratungsmöglichkeiten vor allem mit ihren praxisnahen Erfahrungsräumen aus, wie der wahrlich spektakulären vaginalen Selbstuntersuchung mit dem angeeigneten Spekulum im geschützten Frauenkreis.[4] Demgegenüber wirken die OMGYes-Trockenübungen vor dem Bildschirm mechanisch, vereinzelnd und auf privates Vergnügen beschränkt. Wie die Kulturwissenschafterin Laura Frost erkannte, ist der Begriff „Feminismus“ auf OMGYes auffällig absent.[5] Damit wird das Politische des Erotischen verkannt, durchgestrichen, vergessen gemacht. Um so revolutionär zu sein, wie die Website sich rhetorisch präsentiert, müsste sie das miteinbeziehen, wo der „second-wave feminism“ ansetzte, um nach den Ursachen sexueller Unfreiheiten zu suchen: weniger im Individuum als vielmehr in den patriarchalen und kapitalistischen Umständen, die es verbündet anzufechten galt – die Erschließung des Orgasm-Gap im Pay-Gap.

Sexualität stellt einen einzigartigen und vielversprechenden Modus des In-der-Welt-Seins dar, ein geballtes Gewusel an Fantasien, Neigungen, Verwirrungen, Wünschen, Fragen, Widerfahrenem. Aufklärungsmedien bieten dafür Navigationshilfen. Dabei greifen sie nicht auf eine natürliche Essenz des Sexuellen zurück, sondern konstituieren mit, wie wir Intimität auffassen möchten. Wie können Formate sexueller Bildung zu Resonanzräumen werden, die dazu einladen, in der Auseinandersetzung mit Sexualität etwas über sich und seine Bedingungen zu erfahren? Wie können die Freuden des Lustvollen als etwas vermittelt werden, was Anspruch erhebt: sich sowohl auf den Anderen und das Fremdartige einzulassen, ohne es sich anzueignen, als auch Eigenheiten, Bedürfnisse und Grenzen ernst zu nehmen und darüber hinaus politische Ansprüche zu stellen? Wie kann die dadurch erlangte Souveränität Sphären der Unsicherheit und Vulnerabilität zulassen? Kann sexuelle Bildung Begehren auch als Aufbegehren fassen, als transformative Kraft, die Veränderungen einleiten kann, die nicht nur für sich, sondern kollektiv ein liebes Leben verheißen?

[1] Joven y Alocada, Regie: Marialy Rivas, Chile 2012, 96 Min.

[2] Debby Herbenick, Tsung-Chieh (Jane) Fu, Jennifer Arter, Stephanie A. Sanders, Brian Dodge (2018): Women’s Experiences With Genital Touching, Sexual Pleasure, and Orgasm: Results From a U.S. Probability Sample of Women Ages 18 to 94, Journal of Sex & Marital Therapy, 44:2, 201–212, DOI: 10.1080/0092623X.2017.1346530

[3] Vgl.: Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, (1905), Studienausgabe, Bd. V, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2008.

[4] Vgl. u. a. Wendy Kline: Bodies of Knowledge: Sexuality, Reproduction, and Women’s Health in the Second Wave, University of Chicago Press 2010.

[5] Laura Frost: Cracking the Clit, in: Logic Magazine, Issue 2: Sex, Kalifornien 2017, https://logicmag.io/sex/cracking-the-clit/

 
Beate Absalon

Beate Absalon erforscht als Kulturwissenschaftlerin “andere Zustände”, wie Gebären, Trauerarbeit, Hysterie, Schlaf, radical happiness & collective (kill-)joy oder sadomasochistische Praktiken. Nachdem sie zunächst untersuchte, wie Seile in aktive Passivität versetzen können – durch Bondage, aber auch im Marionettenspiel oder politischen Aktivismus –, promoviert sie derzeit über erfinderische Formen der Sexualbildung. Ihr theoretisches Interesse speist sich aus der Praxis, da sie sich und andere gerne in ekstatische Zustände versetzt – am liebsten undogmatisch: Flogging mit Lederpeitsche oder einem Bündel taufrischer Minze, Halten mit Seil oder Umarmung, Spielen mit aggressivem Kuscheln oder liebevoller Erniedrigung, Fließenlassen von Wörtern oder Spucke. Zu tun, was aus der Norm und dem Alltäglichen fällt, kann Angst machen und gleichzeitig ungeheuer lustvoll sein. Workshops und Sessions gestaltet Beata als Erfahrungsräume für Grenzwanderungen, auf denen Grenzen überschritten und gefunden werden, vage und wagemutige Phantasien gemeinsam erkundet, ein eigener Stil entstehen darf.

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Intimate Interviews Part I – Die Verbindung von Kunst und Lust und ein Workshop-Wunschkonzert

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Sexmoralism – Compulsory Sex – Sexpositivity – Sexnegativity