Der Sex tut mir leid

 

Dieses Interview erschien am 02.08.2024
zuerst im Onlinemagazin
MyGiulia.


— Pamela Russmann

Das myGiulia-Leitthema im August lautet „What a feeling“. Welches Gefühl verbindest du mit Sex?


— Beate Absalon

Im Englischen würde ich „anticipation“ sagen, was im Deutschen leider meist als „Vorfreude“ übersetzt wird. In der englischen Bedeutung dieser gebannten Erwartungshaltung darf aber beides gleichzeitig da sein: Freude und Angst. Und ich mag an dem Wort Antizipation, dass es sich auf einen Zustand bezieht, der noch nicht eingetreten ist. Das verbinde ich auch mit Sex, dieses ewige Umkreisen von etwas, das sich irgendwie nicht endgültig zu fassen kriegen lässt.


— Pamela Russmann

Dein Buch trägt den Titel „Not giving a fuck", du bist aber keine Sexualtherapeutin, sondern Kulturwissenschaftlerin. Wieso hast du ein Buch über sexuelle Unlust, sexlose Lust und lustlosen Sex geschrieben? Es ist ja kein Ratgeber geworden.


— Beate Absalon

Ratgeber haben eine Tendenz, Heilung zu versprechen und dafür ein möglichst effizientes Rezept zu liefern. Das gewünschte Endziel steht dabei meist schon fest. Und meist läuft es darauf hinaus, dass einem versprochen wird, nach der Flaute im Bett wieder Wind in die Segeln zu bekommen. Ich habe dabei oft den Eindruck, in eine fertige „So-soll-es-sein“-Schablone hineingezwängt zu werden. Der kulturwissenschaftliche Zugang schafft eine andere Linderung. Das Leiden wird in größere geschichtliche und gesellschaftliche Kontexte gestellt. Man versteht, dass nicht man selber „falsch“ ist, sondern etwas an den Verhältnissen nicht stimmt. Das ist extrem entlastend. Und es fordert, eigensinnige Umgangsweisen mit dem eigenen Liebesleben zu finden, die dann auch wirklich was mit einem zu tun haben, statt nur einer äußeren Norm zu entsprechen.


— Pamela Russmann

Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, zu sagen: „so und so oft – das ist normal“?


— Beate Absalon

Die Frage nach dem „Wie oft” ist eine Frage der Vermessung, also ein naturwissenschaftlich-experimenteller Zugang. Sexualwissenschaftler*innen wie Alfred Kinsey, William Masters und Virginia Johnson haben das in den 1950er/1960er-Jahren populär gemacht. Bis heute prägen Statistiken unser Verständnis von Sex. Dabei bleibt aber auch vieles auf der Strecke. Wenn wir wissen, wie oft Menschen im Durchschnitt Sex haben, ist damit nichts über die Qualität ausgesagt. Erst vor Kurzem bin ich über eine Studie gestolpert, in der Forschende eine Korrelation zwischen Zufriedenheit und regelmäßigem Sex festgestellt haben und davon ausgingen, dass sich das Glück der Studienteilnehmenden verdoppeln müsste, wenn sie doppelt so oft miteinander schliefen. Ihre Zufriedenheit nahm jedoch ab. Nicht Sex ist wichtig für das Glück. Sondern die Frage, worauf wir Lust haben und was ermöglicht uns, das Leben zu genießen.


— Pamela Russmann

Du bist Teil der so genannten sexpositiven Bewegung. Erklär bitte mal: Worum geht es da und wieso bist du nicht mehr so happy mit dem Status quo dieses Lebensstils?


— Beate Absalon

Sexpositive Bewegungen richten sich gegen Sexfeindlichkeit, also gegen Tabuisierungen, die Erziehung zur Abstinenz oder moralisierende Verbote. Sexpositiver Feminismus setzt auf Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt und auf das Gebot der Einvernehmlichkeit: Alles kann, nichts muss (solange sich alle Beteiligten darauf einigen). Dagegen habe ich nichts einzuwenden, im Gegenteil. Ich habe nur den Eindruck, dass Sexpositivität allein nicht ausreicht. Nicht nur, weil Sexpositivität wieder Druck erzeugen kann, jetzt besonders viel oder ausgefallenen Sex haben zu müssen. Sondern weil patriarchale Unterdrückung viele Gesichter hat. Nicht nur sexuelles Austoben wird unterdrückt, sondern auch das Recht, keinen Sex zu haben. Wir gelten als frigide, langweilig und kaputt, wenn wir es zu selten treiben. Es herrschen paradoxe Gebote. Unter dem männlichen Blick gelten so manche Frauen als besondere „Trophäen“, solange sie nicht mit zu vielen Männern schlafen, aber bei ihrer keuschen Zurückhaltung gleichzeitig verführerisch und willig bleiben. Deswegen schlage ich vor, dass es neben Sexpositivität auch Sexnegativität benötigt, verstanden als eine kritische Analyse von dem Sex, der uns aufgezwungen wird und unglücklich macht.


— Pamela Russmann

Streiken unsere Körper, unsere Sinne, unsere Lustrezeptoren, weil sie „klüger" sind als unser Geist und nicht mehr länger performen wollen um des Performens willen?


— Beate Absalon

Symptome wie Vaginismus, Erektionsstörungen, Lustlosigkeit oder auch Panikattacken können viele Ursachen haben. Aber ja, es ist die These meines Buchs, dass die Materie unseres Körpers eigensinnig und vielleicht auch auf verschlungene Weise intelligent ist. Ich möchte vorschlagen, mit unliebsamen Störungen, die dem erhofften „So-soll-es-sein“-Sex im Weg stehen, nicht gleich auf Kriegsfuß zu gehen, sondern sich ihnen auch mal neugierig und wertfrei zuzuwenden. Was, wenn wir auf ihre Widerspenstigkeiten einen zwar nicht beschönigenden, aber schonenden Blick werfen? Vielleicht sind sie auf unserer Seite? Vielleicht wollen sie uns etwas mitteilen? Vielleicht lehnen sie sich für uns gegen etwas auf? Vielleicht geraten wir dank ihnen neben die erstrebte Spur und damit in interessante Gefilde?


— Pamela Russmann

Soziale und gesellschaftliche Bewegungen verlaufen in Wellen und sind Reaktionen auf Gepflogenheiten davor. Nachdem lange Jahre vieles unter dem knackigen, großflächig anerkannten Motto „Sex sells" lief: Sind Menschen, die kein gesteigertes Interesse für sexuelle Aktion verspüren, 2024 im Trend?


— Beate Absalon

Das könnte man so schlussfolgern, wenn It-Girls wie Julia Fox die Augen verdrehen und Sex als langweiligste Sache der Welt bezeichnen. Vor allem Frauen, aber auch die Generation Z bezeichnen sich zunehmend als freiwillig zölibatär. Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass sie sich nicht gegen Sex an sich wenden. Denn es gibt nicht „den“ Sex. Sie haben eine bestimmte Form von Sex satt. Ich vermute, es ist der Sex, den ich in meinem Buch anhand von vier Merkmalen beschreibe: 1.) wenn davon ausgegangen wird, dass Sex zwangsläufig stattfinden muss, 2.) wenn er mit großer Bedeutung überladen ist, 3.) wenn er als strategisches Instrument eingesetzt wird und 4.) wenn er in seiner Allgegenwart auf eine gefräßige Art und Weise andere Formen von Intimität verdrängt.


— Pamela Russmann

Du beschreibst in deinem Buch, dass die Qualität einer Paarbeziehung daran festgemacht wird, wie regelmäßig Sex stattfindet. Beziehungen werden in Frage gestellt oder beendet, wenn die Lust auf den Partner / die Partnerin nicht mehr da ist. Ist eine Paarbeziehung nur dann wertvoll, wenn Sexualität und Intimität miteinander gelebt werden?

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