Verschlingung, Verdauung und Kokoreç
Ein Gäst’innenbeitrag von Till Ferneburg über Eva Fàbregas Devouring Lovers im Museum Hamburger Bahnhof, Saralisa Volm und die Transformation durch und von Körpern.
„Von Dampfloks gezogene Züge fuhren unaufhörlich in die und aus der Haupthalle, die wie ein Gefäß für diese mächtigen Maschinen war – eine Art mechanischer Koitus“, sagt Eva Fàbregas im Interview zur Ausstellung. In dieses Industriemonument namens Hamburger Bahnhof, das sich die Künstlerin als „riesiges Maul“ oder „Gebärmutter“ vorstellen kann, hat sie etwas Organisches gesteckt, etwas Amorphes, was ein Widerspruch ist, denn gestaltlos und ohne Form ist hier gar nichts. Die Beschäftigung mit dem Körperlichen drängt sich auf: Überall Knollen, Kugelschläuche und Ballonketten, sich windende Formen in elastischem Stoff. Bauschaum? Blütenpollen? Marshmallows? Wie Rotze und Schleim hängen die senfgelben, rosa- und fliederfarbenen Lycrasäcke von der Decke, winden sich um Stahlträger und greifen mit Noppen-Tentakeln nach mir. Ein Museumsmitarbeiter meint, dass täglich ein Besucher gefressen und verdaut werde.
Brüste sind Hoden
Ich habe dich zum Fressen gern, sagt man in der Liebe. Wir nehmen gerne auf und stecken gerne rein: Nahrung, Inspiration, Zungen, Glieder und Toys. Wir vereinigen uns und werden verschlungen. Körper sind Transformationsmaschinen, ein elastisches Feld voller narrativer Stränge. Sind das hier also sexuell konnotierte Organe? Nein, denn dafür denke ich zu oft an Plastik. Sowohl an die Plastik, altgriechisch πλάσσειν plássein für formen und kneten, als auch an das Plastik als Oberbegriff für Kunststoffe. Also doch sexuell, denn da sind wir bei Jeff Koons Silikonfüllungen und diesen Gegensätzen von Schlaff und Straff, Fest und Flüssig, Stand- und Spielbein. Makellos sind diese Objekte nicht, auf den zweiten Blick sieht man Nähte, Narben gleich, die zugleich irritieren und doch der Norm entsprechen. Sie formen erst das, was immerfort Wandlung,Gebären und Zerfall ist. Ich denke an den Skulpturenanzug Avenza aus Latex, den Louise Bourgeois einst trug, an die Göttin Artemis von Ephesos mit den vielen Brüsten, die auch Hoden sein könnten, an andere Körper als die gewohnten. Letztes Jahr, bei der Biennale d’art contemporain in Lyon (geleitet von Till Fellrath und Sam Bardaouil, die als Doppelspitze nun den Hamburger Bahnhof leiten), da sahen Eva Fàbregas Körper wie geschmolzene Testikel aus.
Körperfragen sind Machtfragen
Womit wir bei der Saralisa Volm wären, die eine wütende wie lesenswerte Bestandsaufnahme des weiblichen Körpers geschrieben hat. Die von ihr geforderte Zugangsberechtigung für ein breiteres Spektrum an Perspektiven, hier ist sie erteilt. Schau sie dir an, die prallen Euter und Erbsen, weichen Schoten und Schlingpflanzen, zertretenen Quell- und Schwellkörper. Das Nichtperfekte, Obszöne, Defizitäre, das nicht mehr bekämpft wird. Die Baustelle Körper wird in die Freiheit entlassen. Was vorher Fremdbestimmung war, wird Body Neutrality. Gut oder schlecht, schön oder böse, wer will das noch wissen. „Monster“, nennt Eva Fàbregas liebevoll ihre Formen, zu denen eine Lässigkeit (und Ambivalenz) gehört, die der konfektionierten, gebotoxten Gegenwart abgeht.
Körperbild erweitern
Passt zu Berlin, denke ich mir. Diese Stadt ist von fleischigem Schlag. Hier ist soviel Bodywork zu finden, haptisch, taktil, queer, jüngst beim gleichnamigen Bazaar auf dem Holzmarkt, jetzt beim Matter of Flux-Festival von und für FLINTA*, das gerade zu Ende gegangen ist. Die tief in unserer Gesellschaft verankerte Vorstellung von Geschlecht und Sexualität als etwas Festem, hier löst sie sich auf. Berühren und sich berühren lassen, das gelingt in dieser Stadt, wie eben Berührung sein kann, herausfordernd oder heilend. Körper und Geschlecht, das gilt auch für Raumkörper und Skulptur. Städte wie Berlin und Barcelona, wo Eva Fàbregas aufgewachsen ist, die sind fließende, umhüllende, verschlingende Liebende, in einem unablässigen Akt mit ihren Bewohner*innen, Widerstand und Hingabe inbegriffen. Eva Fàbregas Installationsgewächse erweitern unser Körperbild und die uns umschließende Architektur. Je länger ich dieses Wachsende-Werden betrachte, desto weniger herkömmlich und wertend sind meine Gedanken und Begriffe. Etwas Gegenseitiges, Symbiotisches entsteht, bei der ich Veränderung bereitwillig annehme. Auch wenn Wachstum ambivalent zu sehen ist, sowohl die Frucht imL eib als auch den Tumor beinhaltet, der meine Eingeweide frisst.
Einmal mit allem, bitte
Später am Tag widme ich mich einer anderen Art von Gedärm: Kokoreç (sprich: Kokorätsch), Dünndarm vom Lamm, mit Fett und Innereien verleimt, zu einer Spule aufgewickelt (wie ein Alien-Wurmparasit) und über Holzkohle gegrillt. Ist nicht jedermanns Sache, weil geschmacklich intensiv bis streng. Ich esse die Scheiben hinter der Ankerklause, den Kottbusser Damm runter, im Gokoreç, wo sie das Lammfleisch horizontal über Holz (statt mit Gas als Hitzequelle) grillen. Ist tausendmal besser als Döner, auch wenn ich jetzt an meine Darmtätigkeit erinnert werde, an die Divertikel in Hamburger Bahnhof und eine Darmspiegelung, die ich mal gemacht habe. Sind wir nicht alle Formwandler und bereit für etwas Neues? Sensorisches? Somatisches? Plasmatisches?
Mehr zu Till Ferneburg erfährst du bald auf seiner Webseite >>www.tillferneburg.de